Leistenhernie

Einleitung

Die Leistenhernie stellt das häufigste chirurgische Krankheitsbild beim Säugling und Neugeborenen dar. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich um indirekte Hernien, die lateral der epigastrischen Gefäße auftreten. Ursächlich hierfür ist ein persistierender Processus vaginalis. Hierbei handelt es sich um eine tubuläre Ausstülpung des Peritoneums in den Leistenkanal.

Ätiologie

Jungen sind häufiger von kindlichen Leistenhernien betroffen. Dies wird verständlich, wenn man sich die Embryologie vor Augen führt. Die Hoden werden intraperitoneal angelegt und wandern erst im Laufe der Entwicklung durch den Leistenkanal ins untere Skrotalfach. Dabei wird das Peritoneum ausgestülpt und verläuft zunächst als Processus vaginalis durch den Leistenkanal^. Nach abgeschlossenem Descensus testis verklebt und obliteriert diese Struktur und bildet eine Verschiebeschicht um den Hoden, die tunica vaginalis. Persistiert sie hingegen, spricht man von einem offenen Processus vaginalis.

Descensus testis

Etwa 30-90% der Neugeborenen weisen im ersten Lebensjahr einen offenen Processus vaginalis auf, die Inizdenz der kindlichen Leistenhernie in diesem Zeitraum liegt mit 1-5% jedoch deutlich darunter.2 Ein offener Processus vaginalis ist daher nicht gleichzusetzen mit einem Leistenbruch, begünstigt dessen Entstehung jedoch deutlich. Weitere prädisponierende Faktoren sind eine Erhöhung des intraabdominellen Drucks, z.B. durch Aszites sowie angeborene Bindegewebserkrankungen (Ehler-Danlos-Syndrom, Marfan- Syndrom, zystische Fibrose).

Die Inzidenz einer Leistenhernie ist bei Frühgeborenen höher als bei termingerecht geborenen Säuglingen (9-11% vs. 1-5%)2. Bei Frühgeborenen zwischen 500g und 1000g liegt die Inzidenz mit 30-42 % nochmals deutlich höher. Bei diesem Kollektiv sind sowohl bilaterale Hernien häufiger als auch das Rezidivrisiko nach operativer Versorgung erhöht. 3

Von der Leistenhernie abzugrenzen ist der Befund der Hydrozele, bei dem es zu einer Ansammlung von Peritonealflüssigkeit im Verlauf des Processus vaginalis kommt. Eine Hydrocele kann isoliert oder in Kombination mit einer Leistenhernie vorliegen. Ist der Wasserbruch auf den Samenstrang begrenzt, sprich man von einer Hydrocele funiculi spermatici. Die klinische Abgrenzung kann mitunter schwer sein, insbesondere darf eine Hydrozele nicht mit inkarzeriertem Darm verwechselt werden. Neben der klinischen Untersuchung kann hier die Diaphanoskopie und die Sonografie hilfreich sein.

Anamnese

Der Fremdanamnese kommt bei der Diagnose- und Indikationsstellung der kindlichen Leistenhernie vor allem im Säuglingsalter eine besondere Bedeutung zu. Oftmals ist die Leistenhernie spontan reponibel und im Rahmen der klinischen Untersuchung nicht reproduzierbar. Wird von den Eltern oder der entsprechenden Bezugsperson der Befund in typischer Ausprägung und Lokalisation beschrieben, ist dies hinreichend für eine Diagnosestellung.4

Klinische Untersuchung

Generell gilt es, reponible Hernien von irreponiblen und von inkarzerierten Hernien zu unterscheiden. Bei Letzteren kommt differentialdiagnostisch eine Hydrozele funiculi spermatici in Betracht, die im Vergleich zur inkarzerierten Leistenhernie wesentlich weniger Beschwerden verursacht. Die Lage der Hoden im unteren Skrotalfach sollte bei der Untersuchung unbedingt überprüft werden, um das Vorliegen eines Leistenhodens korrekt zu diagnostizieren. Bei Mädchen kommt auch ein Prolaps des Ovars in den Leistenkanal differentialdiagnostisch in Betracht.

Die Diagnose basiert in erster Linie auf der (Fremd-)anamnese sowie der klinischen Untersuchung. Die Sonografie kann unterstützend eingesetzt werden, um eine Abgrenzung einer Hydrozele, Varikozele oder - bei entsprechender Symptomatik - auch einer Hodentorsion zu erreichen.

Leistenhernie

Therapie

Vom erfahrenen Untersucher kann auch bei inkarzerierter Hernie ein Repositionsversuch unternommen werden. Dabei wird der Bruchsack in Richtung des Leistenkanals auf den äußeren Leistenring komprimiert. Gelingt die Reposition nicht, ist eine notfallmäßige Operation indiziert. Allerdings ist hierbei die zu erwartende Komplikationsrate mit 22,1% deutlich höher als bei elektiven Eingriffen.3 Gelingt der Repositionsversuch, sollte vor allem bei länger bestehender Inkarzeration eine stationäre Aufnahme zur Überwachung erfolgen, da es bereits zu einer Schädigung des inkarzerierten Dünndarms gekommen sein kann. Auch eine en-bloc Reposition der Hernie mitsamt dem äußeren Leistenring ist eine Komplikation die auftreten und sekundär zur Ausbildung einer Peritonitis führen kann.

Mit der Diagnose Leistenhernie steht gleichzeitig auch die Indikation zur operativen Versorgung, da bei einem Leistenbruch anders als bei einer Hydrozele, die sich zurückbilden kann nicht von einem Spontanverschluss auszugehen ist. Die elektive operative Versorgung sollte so rasch wie möglich nach der Diagnosestellung erfolgen.5 Einige Autoren empfehlen eine Versorgung innerhalb eines Monats4 andere schlagen ein noch kürzeres Intervall von bis zu einer Woche vor6 um die Gefahr einer Inkarzeration insbesondere bei Säuglingen zu verringern.

im Falle von Frühgeborenen sollte man bei der Wahl des Operationszeitpunktes sorgfältig das operative Risiko gegen das Risiko einer Inkarzeration abwägen. Letzteres ist geringer als bei reif geborenen Neugeborenen. Dies und die Tatsache, dass Frühgeborene ohnehin hospitalisiert und somit besser überwacht sind, rechtfertigt einen späteren OP-Zeitpunkt, bis die Frühgeborenen ein Gewicht erreicht haben, dass dem eines eutrophen Neugeborenen entspricht.7

OP-Verfahren

Leistenhernie

Die operative Versorgung kindlicher Leistenhernien unterscheidet sich grundlegend vom Vorgehen bei Erwachsenen. Rekonstruktive Verfahren mit Einengung des Leistenkanals haben auf Grund der gehäuften postoperativen Hodenatrophie ebenso wenig einen Stellenwert wie die Verwendung von Netzen Diese werden nur in Ausnahmefällen wie Rezidivhernien und bei Schenkelhernien im Jugendalter eingesetzt.

Der Stellenwert der laparoskopischen Herniotomie im Kindesalter mit Vernähung des inneren Leistenrings ist Gegenstand der Disskusion.8-10 In der Literatur werden höherer Rezidivraten sowie längere Operationszeiten berichtet. Der Vorteil der laparoskopischen OP-Technik liegt vor allem in der Möglichkeit in gleicher Sitzung das Vorliegen einer bilateralen Hernie zu verifizieren und diese problemlos mitzuversorgen. In diesem Falle sind die OP-Zeiten kürzer als bei der offenen Versorgung beider Leisten. In erfahrenen Händen kann die Rezidivrate auf die Werte der offenen Verfahren reduziert werden.11 Der kosmetische Vorteil, den die Laparoskopie bietet, spielt eine untergeordnete Rolle, da der Zugangsweg in der Unterbauchhautfalte bei intracutaner Nahttechnik später kaum sichtbar und nicht länger ist als die Summe der für den laparoskopischen Zugang notwendigen Schnitte.

Leistenhernie

Bei der offenen Op-Technik wird über dem Leistenkanal in der Unterbauchhautfalte ein schräger Schnitt angelegt und unter Durchtrennung der Scarpa-Fazie die Externusaponeurose freigelegt. Diese wird anschließend gespalten und somit der Leistenkanal freigelegt. Dort muss der Bruchsack vom Samenstrang abgelöst werden, ggf. unter Durchtrennung der Fasern des M. cremaster. Auf die Schonung des Ductus deferens sowie der den Hoden versorgenden Gefäße ist sorgsam zu achten. Ist der Bruchsack komplett mobilisiert und isoliert, wird er mit Klemmchen gefasst und längs eröffnet. Der Bruchsackinhalt reponiert meist spontan nach Eröffnung der Externusaponeurose, anderenfalls wird dieser nun vorsichtig nach intraperitoneal zurückverlagert. Unmittelbar distal des inneren Leistenrings wird der Bruchsack mit einer Tabaksbeutelnaht verschlossen und anschließend reseziert. Abschließend wird der Leistenkanal durch Naht der Externusaponeurose rekonstruiert. Hierbei ist darauf zu achten, dass ausreichend Platz verbleibt für die durchtretenden Hodengefäße sowie den Samenleiter. Bei Mädchen verläuft im Leistenkanal das Ligamentum teres uteri, welches durchtrennt und mit der Tabaksbeutelnaht am Bruchsack fixiert wird. Hierbei muss sichergestellt werden, dass nicht versehentlich die Tube mit verschlossen wird. Abgeschlossen wird die Operation durch subkutane Nähte sowie eine intracutane Hautnaht. Eine Drainageneinlage ist in der Regel nicht erforderlich.

Leistenhernie

Eröffnen der Externusaponeurose

Leistenhernie

Abpräparieren des Bruchsacks

Leistenhernie

Eröffnen und Abtragen des Bruchsacks

Leistenhernie

Rekonstruktion des Leistenkanals

Hydrozele

Die operative Versorgung einer Hydrozele besteht in einer Fenestrierung und Resektion der Hydrozelenwand. Liegt eine solche als Nebenbefund vor, wird dies im Rahmen der Leistenherniotomie mitversorgt, ansonsten besteht nur bei Symptomatik eine OP-lndikation. Bei asymptomatischen Patienten kann der Spontanverlauf abgewartet werden, sofern die Differentialdiagnose einer inkarzerierten Leistenhernie oder eines Ovarialprolaps ausgeschlossen wurde.12

Komplikationen

Als intraoperative Komplikationen können Nervenverletzungen des N. ilioinguinalis, des R. genitalis des N. genitofemoralis sowie des N. iliohypogastricus auftreten sowie Verletzungen der Hodengefäße sowie des Ductus deferens. Hier ist zu bedenken, dass nicht nur die Durchtrennung des Samenleiters zu einer konsekutiven obstruktiven Azoopsermie führen kann, sondern bereits eine Quetschung bzw. ein Zugtrauma. Eine Verletzung der Gefäße kann zur Hodenatrophie führen, was im Langzeitverlauf nicht nur die Fertilität einschränkt, sondern auch ein erhöhtes Entartungsrisiko bedeutet. Die Inzidenz einer postoperativen Hodenatrophie liegt mit ca. 0.3% im sehr niedrigen Bereich.13
Eine weitere postoperative Komplikation ist das Auftreten eines Rezidivs. Bei konventioneller Op-Technik liegt das Rezidivrisiko zwischen 0,6 und 3,8%, bei der laparoskopischen Versorgung ist es in erfahrenen Händen mit 1-3 % nur unwesentlich höher.14-16

Vernarbungsprozesse nach einer Leistenherniotomie können im Leistenkanal den weiteren Descensus testis im Rahmen des normalen Längenwachstums behindern. Ein so entstandener sekundärer Hodenhochstand muss ggf. operativ korrigiert werden.

Literatur

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  2. Grosfeld JL. Current concepts in inguinal hernia in infants and children. World J Surg. 1989;13(5):506-515.
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  4. Rowe Ml, Marchildon MB. Inguinal hernia and hydrocele in infants and children. Surg Clin North Am. 1981;61(5):1137-1145.
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  9. Clarke S. Pediatric inguinal hernia and hydrocele: an evidence-based review in the era of minimal access surgery. J Laparoendosc Adv Surg Tech A. 2010;20(3):305-309.
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  12. Naji H, Ingolfsson I, Isacson D, Svensson JF. Decision making in the management of hydroceles in infants and children. Eur J Pediatr. 2012;171(5):807-810.
  13. Ein SH, Njere I, Ein A. Six thousand three hundred sixty-one pediatric inguinal hernias: a 35-year review. ; PediatrSurg. 2006;41(5):980-986.
  14. Tsai YC, Wu CC, Yang SS. Open versus minilaparoscopic herniorrhaphy for children: a prospective comparative trial with midterm follow-up evaluation. Surgical endoscopy. 2010;24(l):21-24.
  15. Treef W, Schier F. Characteristics of laparoscopic inguinal hernia recurrences. Pediatr Surg Int. 2009;25(2):149-152.
  16. Steinau G, Treutner KH, Feeken G, Schumpelick V. Recurrent inguinal hernias in infants and children. World J Surg. 1995;19(2):303-306.