Unterschenkel
Tibiakopffrakturen
Diese Frakturen treten sowohl als osteoporotische Frakturen als auch bei hoher Krafteinwirkungen auf, dann gegebenenfalls auch mit ausgeprägter Weichteilverletzung. Sie sind komplizierte Verletzungen, deren Prognose neben dem Ausmaß der knöchernen Destruktion auch vom Ausmaß des begleitenden Weichteil- und Bandschadens abhängt. Bei Tibiakopffrakturen muss immer das Vorliegen eines Kompartmentsyndroms ausgeschlossen werden. Luxationsfrakturen können mit vaskulären oder neurologischen Schädigungen einhergehen, diese müssen frühzeitig erkannt werden. Kleine knöcherne Ausrisse im Bereich des Kniegelenks sind hinweisend auf einen vorliegenden Bandschaden, nach dem akribisch gefahndet werden muss.
Neben der AO Klassifikation kommen im klinischen Alltag die Schatzker Klassfikation für die Tibiaplateaufrakturen und die Klassifikation nach Moore für die Tibiakopfluxationsfraktur zum Einsatz. Die Wahl und das Timing des Therapieverfahrens richten sich daher nach dem Zustand des Weichteilmantels (offene Fraktur, Schwellung der Weichteile, Kompartmentsyndrom), begleitenden Bandschäden, vorliegenden Begleitverletzungen (Polytrauma), dem Frakturmuster, dem Gesamtzustand und dem Anspruch des Patienten. Zur Bestimmung der Frakturmorphologie und zur Erfassung der Begleitverletzungen kommen die Computertomographie und die MRT zum Einsatz.
Begleitverletzungen sind häufig: Man findet Meniskusläsionen bei über 50%, vordere Kreuzbandruptur bei 30%, hintere Kreuzbandrupturen bei 20 % und Seitenbandrupturen bei 40% der Tibiakopffrakturen.
- Ausriss der Popliteussehne und des lateralen kollateralbandes an seiner proximalen Insertion
- Ausriss des medialen Kollateralbandes proximal
- Eminentiaausriss ( distaler Ausriss des vorderen Kreuzbandes)
- Ausriss des Lig. meniscotibiale laterale = Segond Kantenfragment (immer mit Ruptur des vorderen Kreuzbandes assoziiert)
- Ausriss des Lig. meniscotibiale mediale
- Ausriss des lateralen Kollateralbandes und der Bizepssehne (M. biceps femoris) distal
- Ausriss Tractus iliotibialis am Tuberculum anterolaterale (Tuberculum Gerdy)
- Ausriss des medialen Kollateralbandes distal
Plateau Frakturen
Diese Frakturen sind häufig am lateralen Tibiakopf lokalisiert, da durch die physiologische Valgusstellung der Beinachse eine vermehrte Krafteinleitung über das laterale Tibiaplateau erfolgt. Zudem ist das laterale Tibiaplateau konvex geformt (Im Gegensatz zum konkaven medialen Tibiaplateau) und ist daher bei axialen Stauchungstrauma prädisponiert für Verletzungen.
Die Therapie der Plateaufrakturen beinhaltet die konservative Therapie, die Schraubenosteosynthese, den Fixateur externe (auch Ring- oder Hybrid-Fixateur Systeme), die Plattenosteosynthese. Auch arthroskopisch gestützte Verfahren zur Steuerung und Überprüfung des Repositionsergebnis kommen zum Einsatz.
Die konservative Therapie kommt bei nicht- oder minimal-dislozierten Frakturen, die stabil sind zum Einsatz. Liegen bereits fortgeschrittene degenerative Veränderungen (Gonarthrose) oder ein geringer Funktionsanspruch vor, kann auch hier eine konservative Therapie erwogen werden.
Die Einteilung nach Schatzker unterscheidet Insgesamt 6 Frakturtypen. Nachfolgend sind exemplarisch die vier häufigsten Typen dargestellt.
Spaltbruch
Spaltbruch
Diese Frakturen können je nach Dislokationsgrad mit perkutaner Schraubenosteosynthese, arthroskopisch assistiert oder mit einer lateralen Abstützplatte in offener Technik behandelt werden.
Impressionsbruch
Impressionsbruch
Reine Impressionsfrakturen eignen sich für arthroskopisch-gestützte Verfahren, die imprimierte Gelenkfläche muss hierbei angehoben werden. Dies gelingt z.b. durch einen Stößel, der durch eine Bohrung in den metaphysen Bereich eingebracht wird. Die definitive Osteosynthese kann dann durch winkelstabile Platten oder durch Schrauben erfolgen. Gelegentlich muss ein subchondral entstehender Substanzdefekt mit Knochenersatzmaterialien aufgefüllt werden.
Spalt-Impressionsbruch
Spalt-impressionsbruch
Bei diesen Frakturen wird das Spaltfragment “türflügelartig” weggeklappt und die Impressionzone kann nun angehoben werden. Nach “Zurückklappen” des Spaltfragmentes erfolgt hier eine winkelstabile Plattenosteosynthese.
Bikondyläre Fraktur
Je nach Dislokationsgrad des medialen Fragmentes oder beim Vorliegen von Zusatzfragmenten muss hier gegebenenfalls ein Vorgehen durch zwei Zugänge (z.b. medial und lateral) erfolgen und auch die Abstützung muss gegebenenfalls durch zusätzliche mediale Implantate ergänzt werden.
Bikondyläre Fraktur
Bikondyläre Fraktur
Luxationsfrakturen
Diese Frakturen sind hochgradig instabil und entstehen im Rahmen von Luxations- oder Subluxationsereignissen. Es können ligamentäre oder neurovaskuläre Begleitverletzungen vorliegen, die unbedingt ausgeschlossen werden müssen. Auch die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms ist häufig. Klinisch findet hier die Klassifikation nach Moore Anwendung.
Unterschenkelschaft-/ Tibiaschaftfrakturen
Als Unterschenkelfraktur bezeichnet man die Fraktur von Tibia und Fibula. Die Tibiafraktur ist die häufigste Fraktur langer Röhrenknochen. Am Unterschenkel findet sich ein breites Spektrum von einfachen Frakturen mit geringer Weichteilverletzungen bis hin zu schwersten Verletzungen nach Hochrasanztraumata, die die Integrität der Extremität akut gefährden. Die Behandlung des Weichteilschadens ist entscheidend für das operative Ergebnis. Die konservative Therapie kann nur bei gering verkürzten (weniger als 12mm) und bei minimaler Achsfehlstellung (weniger als 6° in allen Ebenen) der Tibia in Betracht gezogen werden. Aufgrund des geringen Patientenkomforts und der Notwendigkeit eines Oberschenkelgips ist sie vor dem Hintergrund der belastungs- oder mindestens teilbelastungsstabilen (je nach Frakturmuster) Nagelosteosynthese in den Hintergrund getreten.
Als Klassifikation wird die AO Klassifikation verwendet. Im klinischen Alltag kommt eine Deskription des Frakturmusters (transversale Fraktur, kurze schräg-Faktur, Spiralfraktur, Zweietagen-Fraktur, Trümmerfraktur) zum Einsatz. Für die Verletzung des Weichteilschadens es hat sich die Klassifikation nach Gustillo und Anderson (s. Allgemeiner Teil) etabliert, je höher der Grad des Weichteilschadens desto höher ist das Infektionsrisiko. So weisen IIIb° offene distale Tibiafrakturen Infektionsraten von bis zu 50 % auf. In bis zu 20% der Unterschenkelfrakturen (inkl. Tibiakopfrakturen) kann sich ein Kompartmentsyndrom entwickeln, je nach Frakturmuster und Ausmaß der Krafteinwirkung.
Verriegelungsnagel
Der Verriegelungsnagel ist die Standardosteosynthese für Unterschenkelfrakturen oder isolierte Tibiafrakturen. Er kommt auch im Rahmen eines Verfahrenswechsels zum Einsatz, wenn die Fraktur zunächst z.b. aufgrund der Weichteilsituation oder beim Polytrauma mit einem Fixateur externe ruhig gestellt wurde. Gegebenenfalls muss bei Frakturausläufern in den Gelenkbereich eine additive Schraubenosteosynthese erfolgen. Durch zahlreiche Verriegelungsoptionen des Nagels besteht hier ein breites Indikationsspektrum. Das Weichteiltrauma dieser Osteosynthese ist gering, und je nach Frakturtyp kann eine sofort vollbelastbare Situation erzielt werden. Die Makraumaufbohrung ermöglicht das Einbringen größerer Nageldurchmesser, die eine höhere Stabilität gewährleisten.
Plattenosteosynthese
Plattenosteosynthesen bei Unterschenkelfrakturen werden vor allem für die Fibula eingesetzt. Bei sehr distalen Tibiafrakturen (die eine stabile Verriegelung eines Marknagels nicht mehr zulassen) kann eine minimalinvasive, eingeschobene winkelstabile und anatomisch präformierte Platte eingesetzt werden. Bei der oft kritischen Weichteilsituation verbieten sich langstreckige Inzisionen und Freilegung des Knochens.
Fixateur externe
Der Fixateur externe kommt bei offenen Frakturen mit Weichteilschaden zum Einsatz, bei denen eine Nagelosteosynthese zu riskant erscheint, beim Polytrauma, beim Vorliegen oder Drohen eines Kompartmentsyndroms, bei Frakturen, bei Verbrennungen und als Sekundärimplantat nach Infektionen. Er ermöglicht eine schnelle und sichere Montage. Als mögliche Komplikationen bestehen Pin Track Infektionen und ein geringer Patientenkomfort. Bei kritischen Weichteilen kann auch eine Ausheilung im Fixateur erfolgen. Hier finden dann auch Ringfixateure oder Hybridfixateure Anwendung.
Amputation
Bei schwersten Weichteilverletzungen (z.B. Decollementverletzungen, also großfl. Ablederungen der Kutis) und begleitenden Nerven- und Gefäßverletzungen kann ein Extremitäteerhalt in seltenen Fällen nicht sinnvoll sein. Anhalt für die Erhaltungswürdigkeit einer Extremität bietet der sogenannte “mangled extremity severity score” (MESS). Dieser Score kann nur als Anhalt für eine Entscheidung zur Aufgabe der Extremität gesehen werden, sie bleibt immer eine Individualentscheidung und sollte nie leichtfertig gefällt werden.
In den Score fließen folgende Parameter ein:
- Ischämiedauer der Extremität
- Patientenalter
- Schock
- Unfallmechanismus
Nimmt der Score einen numerischen Wert von >7 an hat der Patient eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine sekundäre Amputation nach dem erlittenen Trauma.
Akutes Kompartmentsyndrom des Unterschenkels
Kommt es innerhalb einer abgeschlossenen Muskelloge zu einer zunehmenden Schwellung (z.B. ausgelöst durch eine Fraktur, Weichteil- und Muskelquetschungen, Gefäßverletzungen, Verbrennungen, Unterkühlung, ausgedehnte Muskelkontusionen) steigt der Druck in diesem anatomisch abgeschlossenen Raum (Kompartment). Dies führt zu einer Störung der Mikrozirkulation und es kommt es zu einer Minderperfusion von Muskel- und Nervengewebe.
Stoffwechselmetaboliten der Gewebsischämie und Hypoxie führen zur weiterer Ödembildung und unterhalten so diesen “Circulus vitiosus”. Es kommt im weiteren Verlauf zu ausgeprägten Muskel- und Nervennekrosen, wenn dieser Kreislauf nicht unterbrochen wird. Ein unbehandeltes Kompartmentsyndrom führt zu bleibenden Nervenschäden (Hyp- oder Dysästhesien), Kontrakturen, Muskelschwäche und kann je nach Ausmaß der Rhabdomyolyse auch zu einer Schädigung der Nieren (Crush-Niere) führen.
Der Unterschenkel ist am häufigsten von einem Kompartmentsyndrom betroffen (80% aller Kompartmentsyndrome). Die oben genannten katastrophalen Spätfolgen können nur durch eine rechtzeitige Fasziotomie der Kompartimente abgewendet werden. Da nur hierdurch die Mikrozirkulation des Muskel- und Nervengewebe wiederhergestellt werden kann. Die Diagnose des Kompartmentsyndrom wird klinisch gestellt. Allerdings erreicht die Sensitivität der klinischen Tests nur einen geringen positiven prädiktiven Wert (11-15%), bei insgesamt aber guter Spezifität (98%).
Die peripheren Pulse sind beim Kompartmentsyndrom erhalten, da die Druckerhöhung in der Muskelloge den systolischen Blutdruck nicht übersteigt. Insbesondere bei sedierten oder komatösen Patienten kann eine invasive Druckmessung im Kompartment durchgeführt werden. Allerdings fehlen klare Empfehlungen zur Durchführung einer Fasziotomie. Diese wird bei intrakompartimentellen Drücken zwischen 30 bis 45 mmHg empfohlen, oder wenn die Differenz zwischen diastolischem Blutdruck intrakompartimentellen 30 mmHg unterschreitet (kritischer Perfusionsdruck).
Klinische Zeichen des Kompartmentsyndroms müssen bei gefährdeten Patienten im zeitlichen Verlauf immer wieder erhoben werden um diese zeitkritische Diagnose nicht zu verpassen.
Beim klinischen Verdacht auf Vorliegen eines Kompartmentsyndroms muss die Fasziotomie aller 4 Unterschenkelkompartimente erfolgen. Dies kann entweder über eine einzelne laterale Inzision oder über eine mediale und eine laterale Inzision erfolgen. Wichtig ist, dass alle vier Kompartimente erfasst werden um die Mikrozirkulation des Gewebes wieder zu gewährleisten um die desaströsen Spätfolgen abzuwenden.
Frakturen der distalen Tibia/ Pilon tibial Frakturen
Frakturen der distalen Tibia mit Gelenkbeteiligung, die durch eine axiale Krafteinwirkung auf das Gelenk entstanden sind und zu einer Zerstörung (pilon (franz.) der Stößel) der distalen Tibiagelenkfläche führen sind komplexe Frakturen, die schwierig zu versorgen sind. Nicht nur die Frakturmorphologie auch die Begleitverletzung der Weichteile haben großen Einfluss auf das Ergebnis und verkomplizieren diese schwierig zu versorgenden Frakturen.
Während Sprunggelenksfrakturen durch indirekte Krafteinwirkung entstehen, kommt es bei der axialen Krafteinwirkung des Talus auf die distale Tibia zu einer ausgeprägten Zerstörung der Gelenkfläche. Verkomplizierend kommt der dünne Weichteilmantel und die schlechte Mikrozirkulation des gesamten Gebietes hinzu. Präoperativ muss daher das Ausmaß des Weichteilschaden genau erfasst werden. Starke lokale Schwellungen mit Spannungsblasen der Haut oder drohende Hautnekrosen müssen unbedingt erfasst werden, da sie die weitere Therapie vorgeben. Die Akutbehandlung dieser Frakturen besteht in der Wiederherstellung von Achse, Länge und Rotation der distalen Tibia mittels sprunggelenksübergreifendendem Fixateur externe.
Sollten die Weichteile eine Versorgung der Fibula zulassen, kann dies initial geschehen um hier einen sekundären Längenverlust zu vermeiden. Zum genauen Verständnis der Frakturgeometrie und zur Planung der definitiven Versorgung ist die Computertomographie unerlässlich. Die Einteilung der Frakturen wird anhand der AO-Klassifikation durchgeführt.
Die definitive Frakturversorgung kann erst nach Erholung der Weichteile stattfinden, in der Regel nach sieben bis zehn Tagen. Bei offenen Frakturen kommt es oft zu einem Weichteildefekt, hier ist eine enge Zusammenarbeit mit dem plastischen Chirurgen notwendig um einen definitiven Weichteilverschluss zu erzielen.
Es kommen je nach Frakturmuster verschiedene operative Zugangswege zur distalen Tibia in Betracht. Bei starker primäre Gelenkdestruktion mit Verlust von Gelenkanteilen kann auch eine primäre Arthrodese (Versteifung) des oberen Sprunggelenks nötig sein.
Nach Versorgung der Fraktur muss eine Teilbelastung oder Entlastung für 12 mindenstens Wochen eingehalten werden, bis erste radiologische Zeichen der Konsolidierung sichtbar sind. Posttraumatische Arthrose, Pseudarthrose und Infektionen sind häufige Komplikationen.